«Etwas loswerden zu wollen ist der sicherste Weg, es an sich zu binden.»
Das Loslassen beschreibt in unserem Alltagsgebrauch einen oft abrupten Vorgang wie beispielsweise das Seil loslassen, das brennende Holzscheit loslassen, das Steuer loslassen … Es impliziert eine schnelle Aktion, die zu einer sofortigen Änderung der Umstände führt. Irrtümlicherweise wird das Loslassen auch im weiteren Sinne verwendet, wie: Wir sollten unsere Sprösslinge loslassen, damit sie ihren Weg gehen können, wir sollten unsere `Probleme` loslassen, damit wir leichter durchs Leben gehen können, wir sollten unseren Partner loslassen, damit er seine Autonomie leben kann … Die Wortanwendung in diesen Bereichen gaukelt uns vor, dass wir eine kurze Handlung tätigen und die Angelegenheit sei erledigt. Jeder weiss, dass dem nicht so ist und dennoch sind diese Floskeln derart weit verbreitet und werden im Alltagsgebrauch, speziell in spirituellen und esoterischen Kreisen mantraartig propagiert.
Die Ablösung hingegen beschreibt einen Prozess und keine schnelle Hau-Ruck-Aktion. Beim Blick in die Natur stellen wir fest, dass Ablösung in Schritten geschieht. Der Blumensame löst sich nach entsprechendem Reifungsprozess von der Pflanze und fällt zu Boden, damit er im nächsten Jahr keimen kann. Die Seele löst sich im Schlaf jede Nacht bis zu einem gewissen Grad vom Körper, um dann vor dem Erwachen wieder in den Körper zurückzukehren. Das noch nicht aus dem Mutterleib geschlüpfte Mädchen oder der Knabe löst sich allmählich von der Mutter, indem sie/er tiefer in deren Becken sinkt und damit den Weg heraus, aus der geborgenen, jedoch zu eng gewordenen Höhle, vorbereitet. Wir beobachten hier also naturgegebene Gesetzmässigkeiten, die erst nach vollendeter Reifung in eine entsprechende Bewegung kommen und nach denen sich alles Leben richtet.
Es ist also ein gewaltiger Unterschied feststellbar zwischen dem gängigen, floskelhaften, verstandesgeprägten und vermeintlichen Loslassen und der Ablösung, als natürlichen Vorgang, der seinem eigenem Rhythmus folgt.
Betrachten wir nun als letztes die Anhaftung. Es wird bewusst nicht von der Anbindung, sondern der Anhaftung gesprochen. Der Anhaftung liegt ein polares Prinzip zu Grunde, in welchem sich zwei `Dinge` mit unterschiedlichen Eigenschaften gemäss einer natürlichen Ordnung gegenseitig anziehen, in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Der Magnet haftet am Metall. Der Honig haftet an der Bienenwabe. Die Klettpflanze haftet am Hundefell. Im menschlichen Bereich allerdings kann die Anhaftung durchaus zu unangenehmen Empfindungen führen. Uns kann beispielsweise das Gefühl bedrücken, dass wir von einer schlechten Eigenschaft behaftet sind, ein Mensch vereinnahme uns (haftet an uns), ein `Problem` würden wir nicht los (hafte an uns) …
Eben solch unangenehmen Gefühle würden wir dann am liebsten loslassen – ruckzuck und weg. Nur leider klappt das eben nicht. Weshalb? Weil wir offenbar Eigenschaften haben, die mit den anderen Eigenschaften perfekt harmonieren, einander anziehen, einander bedingen.
Diese Tatsache ist keineswegs als angelegten Mangel oder als Fehler des Menschen zu deuten, sondern ein wertvoller Hinweis auf die eigene momentan Natur. Ein jeder ist durch die eigenen Lernprozesse herausgefordert, sich zu einem Meister `in seinem Fach` zu entwickeln. Das allermeiste, was uns im Leben begegnet, fördert (und fordert) uns in einem bestimmten Bereich.
Die grössten Entwicklungs-Beschleuniger sind oft die kleinen bis grossen, vermeintlichen Tyrannen, die meist ungefragt in unserem Leben erscheinen. Sind es doch genau diejenigen, die ihre Rolle in unserem Entwicklungsprozess hervorragend zu spielen scheinen und denen wir vielleicht Jahre später dankbar sind für ihre Hartnäckigkeit und den Antrieb für einen tiefgreifenden Lernprozess, den sie in unserem Leben angestossen haben.
Teilweise werden Menschen auch angefeindet, bekriegt oder schlicht ignoriert, weil sie von anderen als Bedrohung wahrgenommen werden. Ein Grund dafür kann sein, dass sie offenbar im Stande sind, hinter die Fassaden und Kulissen derjenigen zu blicken, die am lautesten brüllen und um sich schlagen. Ausdrücklich wird hier Abstand genommen von der Meinung einiger Kreise, die propagieren, dass alles, was uns im Leben widerfährt nach der offenen Karma-Rechnung abgegolten werden muss. Diese Meinung wird hier nicht vertreten. Gibt es doch Gräueltaten, zu denen ein Mensch niemals im Stande wäre. Dieses Thema bedarf einer vertieften Hinwendung und darauf wird an anderer Stelle eingegangen.
Je hartnäckiger die Angelegenheit ist, desto grösser scheint der Schatz, welcher darunter verborgen ist, vorausgesetzt wir sind bereit, das Wagnis der Annäherung zu starten. Was uns in unserem Leben widerfährt, geht uns immer etwas an – so auch ALL unsere Reaktionen auf irgendwelche Trigger. Projektionen auf andere bringen uns da definitiv nicht weiter und dennoch sind sie schnell geschehen. Ein jeder hat genug damit zu tun, den eigenen Garten aufzuräumen. Wurden und werden wir doch alle ständig manipuliert und merken teils langsamer, teils schneller, wie tiefgreifend die Verwerfungen in uns selbst sind. Erst bei selbstkritischer Erforschung der eigenen Irrungen, kann wirklicher und nachhaltiger Frieden beginnen.
Was lässt sich an Erlebtem loslassen? Rein gar nichts, denn was erlebt wurde, wurde erlebt. Das Erlebte ist Teil von uns und untrennbar mit uns verbunden. Allerdings kann dessen Eigendynamik durch den Lichtstrahl des tieferen Erkennens, des sich Selbst-Bewusstseins nach und nach an Kraft verlieren. So kann aus genannten Gründen das Loslassen eher schlecht als recht funktionieren, sondern erfolgt die Ablösung durch Hinwendung zum Schreckgespenst und dadurch wird das tiefere Erkennen der eigenen Natur, die Hinwendung zum eigenen Sein, gefördert.
So ist die Bewegungsrichtung klar erkennbar. Das bedeutet, wir bewegen uns nicht weg vom anderen Ende des Gummibandes, sondern bleiben erst mal stehen und bezeugen den IST-Zustand oder eine innere Not. Das braucht Mut und Geduld, weil unsere Reflexe schneller sind als unser Schatten. Diesen ersten Schritt zu wagen, anstelle es `loslassen, loswerden` zu wollen, ist der Beginn einer Reise, die ihren eigenen Gesetzmässigkeiten folgt.
Der Initialfunke des Prozesses des Annehmens ist das Gewahrsein. Nur durch das Bezeugen des Ist-Zustandes, einer inneren Not und die langsame, schrittweise Integration des vermeintlichen `Das-da-drüben` kann ein Weg hin zur Ablösung sein. Und dann geschieht Ablösung nach und nach von selbst, ganz ein-fach, weil sie ihrem eigenen, naturgegebenen Rhythmus folgt.
Und wenn der Same ausgereift ist, fällt er auf die Erde, so daraus im nächsten Frühjahr eine neue, prächtige Pflanze erwachsen möge.
Corinne Faenzi
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