Der Schmerz – unser weisester Verbündeter oder unser grösster Verhinderer?

«Der Schmerz ist der letzte Wächter des Tores zur Dimension des reinen Seins.»

Jeder Mensch kennt ihn, jeder Mensch wird von Zeit zu Zeit von ihm erfasst, jeder Mensch will ihn verhindern, jeder Mensch versucht den völlig vergeblichen Kampf gegen ihn aufzunehmen, jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Vielzahl an Vermeidungsstrategien, um ihn nicht fühlen zu müssen, jeder Mensch wird gezwungen, sich mit ihm auseinanderzusetzen: 

Der Schmerz.

Gesprochen wird hier vom «Seelenschmerz», dem Schmerz, den wir fühlen, wenn wir uns angegriffen oder ungerecht behandelt fühlen oder beispielsweise, wenn wir einen Verlust erleiden müssen, wenn wir herausfordernde Lebenssituationen zu meistern haben, wenn tief liegende Wunden aufgerissen werden,…

Bevor in Dir blitzartig das «Aber und Wenn» aufsteigt und sich breit macht, Du in Schnappatmung verfällst, lies mal, lass wirken und gehe in die Selbsterforschung und Selbstbeobachtung.

Die kleinen Geschwister und Vorreiter des Schmerzes sind die Angst, die Hilflosigkeit, die Rage, die Verzweiflung, die Ohnmacht. Diese unangenehmen Vorboten lassen uns die unermessliche Dimension des Schmerzes bitter erahnen und sind uns noch eher willkommene und verglichen mit ihrem grossen Bruder, doch vermeintlich noch besser bezähmbare Genossen. «Vermeintlich» sei hervorgehoben!

Und wehe er schleicht sich auf leisen Pfoten an uns ran und versucht uns auf die Schulter zu klopfen, so graben wir unser ganzes Rüstzeug, unsere spitzeste Lanze, den längsten Speer und das schärfste Schwert aus und fuchteln meist blindlings damit herum, im verzweifelten Versuch, den Peiniger loszuwerden.

Unsere irrsinnigen, allerdings auch menschlichen Bewältigungsstrategien sind oft Anschuldigungen, Projektionen, Wutausbrüche, Rückzug, Dämpfung mit Drogen jeglicher Art (der gesellschaftlich tolerierte und perfid beworbene Alkohol und Tabak sind Spitzenreiter), Ablenkung mit Spass- und Untenhaltungsindustrie, Smartphone-, Internetsucht, Geltungsdrang, Arbeitssucht, ständiger Beschäftigung und vielem mehr…

Sind wir knallhart ehrlich mit uns selbst, fallen jedem von uns etliche Ablenkungsmanöver ein…!

Und wieso nun um Gottes Willen sollte dieser rabenschwarze Geselle, der uns manchmal hinterhältig überfällt und dazu zwingt, unsere tiefsten Abgründe zu erforschen, uns nur annähernd etwas lehren können?

Nun ja, die Antwort ist gleichermassen einfach wie klar: Finde es heraus!

Im Angesicht des Schmerzes erfasst uns die blanke Angst vor der vollständigen Auflösung – im Endeffekt ist das der körperliche Tod. Da inbegriffen ist nicht nur der Körper, sondern gleichermassen unsere Gedanken, Gefühle unsere Identifikationen, all das, was wir glauben zu sein (und es in diesem Bewusstseinsstand übrigens ja auch sind).

Und jeder, der von sich behauptet, keine Angst vor dem Tod zu haben, nur Angst vor dem Leiden, ist in theoretischem Gedankenwirrwarr gefangen.

Der Schmerz ist insofern unser weisester Lehrer, weil wir durch ihn immer und immer wieder die Möglichkeit erhalten, unsere Vorstellung über unser Sein, unsere Werte, unsere Identifikationen, unsere Meinungen über uns selbst und die «Welt da draussen» aufzugeben und abfallen zu lassen wie Herbstlaub. 

Aus dieser Sicht ist der Schmerz unser weisester Lehrer, der uns die Gelegenheit bietet, den grossen Übergang, die vollständige körperliche Auflösung, den körperlichen Tod, zu Lebzeiten zu üben, uns darauf vorzubereiten. Denn eines ist ganz sicher… Der Übergang kommt.

Gehen wir mutig das Wagnis ein und lassen den Schmerz in seinem so sein zu, nehmen wir ihn vollkommen an, geschieht etwas Wundersames. Es ist so, als würden wir uns auflösen, als seien wir nicht mehr fassbar und zurück bleibt etwas Kristallklares, etwas Reines.

Das, was dann übrig bleibt, ist nur annähernd mit Worten zu umschreiben. Es ist im Grunde nur erlebbar, erfahrbar, fühlbar. Das, was übrig bleibt ist: 

Das Nichts, das Nichtgreifbare in uns. Unsere Seele. Unser Sein. Unsere Essenz. Das Unbeschreibliche, jedoch Erfahrbare.

Und so erhalten wir in unserem Erdendasein immer wieder die Gelegenheit in Berührung zu sein mit unserem Kern, der Seele, der Essenz – jenseits aller Ideen und Vorstellungen über uns selbst.

Das Leben bietet uns wieder und wieder die Gelegenheit, Menschen, die uns verletzt, gekränkt oder angegriffen haben, vielleicht nach und nach aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, um am Ende dankbar zu sein, dass sie uns diesen unfreiwilligen Gang geschaffen haben, um zu üben, als Vorbereitung auf die eine grosse Reise. Das bedeutet keineswegs ein Fehlverhalten gutzuheissen oder untätig zu sein. Es bedeutet lediglich, die Chancen in den Herausforderungen zu erkennen.

Das schafft Frieden im Kleinen, wo jeder so viel tun und wirklich Grosses bewirken kann.

Danke.

Corinne Faenzi

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